• "Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A powerful use of image and poetry." ***** Roger Ballen, Photographer

  • "Terribly beautiful and fascinating" **** Richard Mosse

  • "Peter Truschner schont in seinen Texten über eine Welt, in der es um den Preis und nicht um den Wert einer Ware, der Arbeit oder des Lebens geht, weder sich noch den Leser." ***** Stefan Gmünder, Der Standard

  • "Peter Truschner belongs to the almost extincted sort of artists who always have to go all out." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A great amount of good photography." ***** Myrto Steirou, VOID

  • "Peter Truschner ist nicht nur ein wacher und sensibler Beobachter, sondern ein Erlebender des Wahnsinns, der um uns herum geschieht." ***** Martin Kusej, Burgtheater Wien

  • "Ist das immer schon so gewesen, dass man eines Tages hinter seinem warmen Ofen hervorgeholt und an den Haaren ans Ufer gezerrt und in die kalten Betriebsfluten getaucht und getauft wurde im Namen des Geschäfts?" ***** aus: Im Namen des Geschäfts

Copyright 2024 - Peter Truschner - All rights reserved // „Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Erzählungen

 

Der Marquis von O.

Vogelgezwitscher. Unterschwelliges Hin und Her im Gehölz. Wir lagen unter grobmaschigen Decken, wie sie beim Bundesheer verwendet wurden, aneinandergedrängt wie ein Rudel Tiere, das Wohlbefinden des Einzelnen abhängig von der Körperwärme der anderen. Als Unterlage diente uns trockenes Laub, das wir vor Einbruch der Dunkelheit gesammelt hatten. Dennoch zitterten die meisten bereits, als das Lagerfeuer noch brannte. Sonja klapperte regelrecht mit den Zähnen.
Dem Entfachen des Lagerfeuers war am Vorabend eine jener Auseinandersetzungen vorausgegangen, die unsere Theaterexpedition von Anfang an geprägt hatten – genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Karl hatte auf unserem Marsch ein Feuerzeug gefunden. „Wirf es weg“, forderte Sonja. „Sofort.“ Ausgerechnet Sonja, die am meisten unter der Kälte litt, die unter dem Blätter- und Nadeldach von der dunklen Erde hoch kroch, und die sich demzufolge am meisten über den Fund hätte freuen müssen. Ihr schmaler, federnder Körper und ihr spitz zulaufendes Gesicht ließen mich an einen Vogel denken, während die Ruhe und Genauigkeit, die in Karls Beruf unabdingbar waren – er war Bibliothekar – entweder auf ihn abgestrahlt oder ihn für diesen Beruf prädestiniert hatten. Nach außen hin ein anatomisches Stereotyp seiner Zunft – Brillenträger, untersetzt, kahlköpfig –, war er nichtsdestoweniger reaktionsschnell und entschlossen. Als Sonja ihm das Feuerzeug wegnehmen wollte, stieß er sie von sich und umschloss das Feuerzeug fest mit seiner rechten Hand. Es schien, als wollte Sonja ihn anspringen. O. ging vorsichtshalber dazwischen. „Lass ihm das Feuerzeug.“ Sonja, die für einen Moment nicht wusste, wohin mit ihrer Wut, bückte sich und warf O. eine Handvoll Erde ins Gesicht. „Bist du deppat, du scheißblöde Kuh?“
Auf den ersten Blick wollte ich nicht mehr, als mit den Teilnehmern des Workshops bei brütender Hitze eine dreitägige Exkursion in ein so gut wie unberührtes Gebiet entlang der ehemaligen grünen Grenze zwischen Tschechien und Österreich unternehmen. Das ganze firmierte unter dem Oberbegriff „IMMER WEITER: MACBETH“. Die Grundlage des Liebens, Tötens, Träumens im „Macbeth“ ist das Marschieren; seine Seele ist der Ausnahmezustand, den die permanente Mobilmachung in Zeiten des Krieges bedeutet. So sollte, wer über den Macbeth nachdenkt, ihn auch nachgehen, in anfänglich frohgemuter, schlussendlich ausgebrannter Marschbewegung über die antizipierte Blutlandschaft hinweg, die das Auslaufen der Kräfte gleichmütig über sich ergehen lässt.
Meine Idee rief durchaus wohlwollende Reaktionen hervor, was wohl eher der Tatsache zu verdanken war, dass O. am Workshop teilnahm. Als O. jedoch auf meine Veranlassung hin den Teilnehmern alles wegnahm, was ihnen den Ausflug irgendwie angenehm gemacht hätte, kippte die Stimmung. Keine Handys, keine Taschenlampen, keine Haarbürsten. Statt isolierter und gefütterter Schlafsäcke gab es alte Wolldecken. Sogar das bequeme Schuhwerk nahmen wir ihnen ab und steckten ihre Füße in abgetragene Soldatenstiefel. Nicht einmal O.s Reputation als Burg-Schauspieler, konnte diesen Verlust an Bequemlichkeit restlos ausgleichen. So kam es, dass wir bereits die Hälfte der Teilnehmer verloren hatten, bevor wir überhaupt losmarschiert waren. Von den sieben, die uns geblieben waren, verloren wir am ersten Tag weitere drei. Es war Hochsommer, wir kamen durch Zeckengebiet und zwei Frauen fürchteten sich, gebissen zu werden. Ein Mann empörte sich außerdem darüber, dass ich keinerlei Vorkehrungen für den Notfall – einen schlimmen Sturz, einen Hitzeschlag – getroffen hatte (was nicht der Wahrheit entsprach, aber ich ließ ihn – der sozialen Dynamik wegen – in seinem Glauben.) „Da sind so die üblichen Ausfälle“, sagte ich zu den anderen. „Deserteure“, sagte Sonja. Durch ihren harten Blick und ihren verächtlichen Tonfall hindurch schimmerte ein großes Potenzial an Eifer und Opferbereitschaft. „Ich will nichts weiter hör’n; lasst alle fliehen: Bis sich der Wald von Birnam her bewegt, trotz ich der Angst“, kommentierte O. das Geschehen. „I bin no nie von eim Zeck bissen worden“, sagte Gerti, eine korpulente Finanzbeamtin mit hennarot gefärbten Haaren, die immer lächelte, wenn man sie ansah und bereits nach einer Stunde so schwer ins Schnaufen kam, dass ich dachte, sie würde nicht lange durchhalten.
Am Nachmittag war das Wasser verbraucht, und wir trugen schwer an unseren Decken und bescheidenen Vorräten. Ich hatte jedem geraten, sich ausgiebig mit einer Sonnenmilch mit dem höchsten Lichtschutzfaktor einzureiben. Wer es – wie Roland – verabsäumt hatte, hatte bald einen schlimmen Sonnenbrand. Ich fragte ihn, ob er lieber nach Hause gehen wollte. „Dieser Sturm trägt mich zum Gipfel oder stürzt mich jetzt. Ich hab’ genug gelebt“, gab er mir stolz zur Antwort, worauf O. mit dem Finger auf ihn zeigte: „Er ist verrückt, die, die ihn nicht so hassen, bezeichnen es als Kühnheit“. Roland war ein drahtiger Frührentner, dessen eisblaue Augen ein Loch ins Gesicht eines unsicheren Gegenübers brennen konnten. Er hatte als Ziviltechniker gearbeitet und einen Arbeitsunfall gehabt, von dem jedoch keine – zumindest körperlichen – Spuren erkennbar waren.
Wir mussten Wasser suchen. Ich hatte das Gelände zuvor genauestens erkundet und führte die Gruppe absichtlich in die falsche Richtung. Schon nach einer halben Stunde zeigten sich Auflösungserscheinungen, allen voran bei O., der früher Kampfsport betrieben hatte, sich nun aber lieber bei Wein und Tafelspitz entspannte.
„Heast, i hob docht, du kennst di do aus“, herrschte er mich an. „Wo is’n jetzt des Scheiß-Wossa?“
„Von hier aus etwa eine halbe Stunde entfernt in entgegen gesetzter Richtung“, erwiderte ich ruhig.
Er nahm mich ins Visier. „Soll das heiß’n, du hast uns absichtlich in die Irre geführt? Kannst du mir bitte erklären, wozu? I man, am Oasch samma eh scho.“
„Es gibt Entscheidungsträger und Befehlsempfänger. Zweitere müssen Befehle nicht verstehen, sie kommen gar nicht dazu, sie sind vollends damit beschäftigt, sie auszuführen, mit heiler Haut davonzukommen.“
O. hatte sich hingesetzt. Er schüttelte den Kopf. „Deppata.“
„Was erregst du dich so? Du bist doch Schauspieler. Nicht? Bist es also gewohnt, zu tun, was man dir anschafft.“
O. sprang auf. Ich lief davon, er rannte mir hinterher, ich spürte seinen Zorn in meinem Rücken. „Gib es auf: Noch eher schlägt dein Schwert die Luft in Stücke, als dass es mich bluten macht.“ Als er mich eingeholt hatte, hielt ich eine Tasche in der Hand.
„Wo hast’ n die auf amal her?“ Er riss sie mir aus der Hand, sie enthielt eine Thermoskanne mit Kaffee sowie Wundsalbe für Rolands Sonnenbrand und Pflaster für die Blasen an unseren Zehen. O. schüttelte wieder den Kopf.
„Du musst das nicht verstehen. Du marschierst nur. Entscheidungen treffen dich wie ein Blitz. Du ergibst dich ihnen wie einem persönlichen Schicksal. So treibt es dich durch den Krieg, durch Mord, Verrat, Wahn. Immer weiter. Das kennst du doch auch vom Spielen. Das Unerklärliche. Die Leerstelle.“ Ich lachte. „Der Marquis von O., wenn du so willst.“
O. sah mich befremdet an. „Was ist?“, fragte ich. „Hier gibt’s keinen künstlerischen Betriebsrat, an den du dich wenden kannst. Nimm’s hin oder lass es sein.“
Als wir zu den anderen zurückgingen, legte O. seinen Arm um mich und führte seine Lippen ganz nah an mein Ohr: „Mir kommt vor, du inszenierst das Alles gar nicht für die paar Leutln da, sondern für mich.“
In der ersten Nacht hatten wir kein Feuer. O. warf mir von der Seite immer wieder einen Blick zu, er wartete darauf, dass ich doch noch ein Feuerzeug hervorzauberte. Schließlich gab er auf. „Der Führer will, dass wir die Nacht im Dunkeln verbringen, also verbringen wir sie im Dunkeln.“ Wir rückten zusammen. O. erheiterte uns mit Anekdoten aus seinem Schauspielerleben. Dann fingen wir zu singen an, kamen jedoch zu dem Schluss, dass es lächerlich war und lauschten solange den Liedern der Nacht, bis einer nach dem anderen vor Erschöpfung einschlief.
Der zweite Tag verlief unspektakulär. Wie ich es mir erhofft hatte, begegneten wir keiner Menschenseele. Sobald von weitem das Geräusch eines Traktors zu hören war, schlug sich die Gruppe in den Wald, ohne dass ich sie dazu antreiben musste. Von Marschieren konnte bald keine Rede mehr sein. Unsere Füße waren wund, und wir machten uns lieber die Verbände dreckig, als weiter in den Stiefeln herumzulaufen. Wir hielten uns aneinander fest und trieben durch Wald und Wiesen wie ein Schiff, das ein Spielball der Winde und Gezeiten war. Als wir zu einem Bach kamen, tranken wir nicht viel anders als das Wild: Wir gingen in die Knie und tauchten unseren Kopf in das Wasser. Kurz darauf stolperte O. und ritzte sich an einem spitzen Stein eine tiefe Wunde. Wir wollten ihm helfen. „Rührt’s mi ned an!“ Ich reichte ihm einen Verband. „Die gehen dir auch langsam aus, was?“ Als er sich die Wade verbunden hatte, sagte er: „Mein Wille wird nicht brechen und nicht zaudern, mein Herz in mir wird nie vor Angst erschaudern.“ Er sah mir dabei in die Augen und ich wusste, dass es in diesem Fall mehr war als ein Zitat, das er für den Anlass auswendig gelernt hatte.
Gerti und Roland waren zu diesem Zeitpunkt Marionetten an unseren Fingern, Schlachtvieh, dass Macbeth und Banquo ins Feld führten, während Sonja und Karl gierig danach waren, wie Waffen zum Einsatz zu kommen. O. hatte ein Auge auf mich, suchte die anderen vor meiner Unberechenbarkeit zu schützen. Dennoch konnte auch er nicht verhindern, dass ich Roland das Feuerzeug zusteckte, was schließlich dazu führte, dass Sonja O. Erde ins Gesicht schleuderte.
Am dritten und letzten Tag wachten wir früh auf, blieben jedoch lange liegen. Die Gruppe war jetzt wahrlich ein geschundener Haufen, den man mit einem Stock vor sich hertreiben musste, wollte man etwas Sinnvolles zuwege bringen.
Eigentlich hatte ich mit Sonja vereinbart, zusammenzubrechen und so zu tun, als hätte sie das Bewusstsein verloren, sodass die anderen in Panik gerieten. Als ich jedoch den Donner hörte, gab ich ihr ein Zeichen. Wir schleppten uns aus dem Dickicht auf ein offenes Feld. Wenig später setzte das Gewitter ein. Kein Schutz, nirgends. Blitze wie böse Gedanken. Wir warfen uns auf den Boden und waren rasch klitschnass. Ich weiß nicht, wie lange wir so lagen, ich weiß nur, dass Gerti sich plötzlich aufrichtete und sich auszuziehen begann. „I wollt schon imma mal nackert durchn Regn laufn, aba i hab mi nie traut.“ Wenig später waren wir alle nackt und bewarfen uns lachend mit der schlammigen Krume. Unsere Müdigkeit war mit dem Gewitter weiter gezogen. Wir fielen uns um die Arme, ich spürte, wie mir im Gewühl jemand an den Schwanz fasste. Schließlich warf O. mich um, packte mich an den Füßen und schleifte mich einige Meter über den Acker. Dann warf er sich von hinten auf mich und drückte meinen Kopf in den Dreck, dass ich keine Luft mehr bekam. Das wiederholte er drei-, viermal, bis sich die andern auf ihn stürzten und schließlich alle auf mir zu liegen kamen. Plötzlich hatte ich wieder O.s Lippen an meinem Ohr, was er keuchend hervorbrachte, wehte wie ein schmutziges Banner über den vergangenen Tagen: „Jetzt hab ich auch die Sonne langsam satt und möchte, dass die Welt ein Ende hat. Auf, läutet Sturm! Komm Wind, weh! Komm her, Verderben! Wir werden wenigstens gerüstet sterben.“

 

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