Essays
Das Testament der Materie
Das Gewand Luzifers
Die Welt befindet sich bei Kai Kuss in einer ewigen Laborsituation: ein Experiment, von dem man sich einst viel erhofft hatte, dessen Ausgang abzuwarten aber schon lange niemanden mehr interessiert. Vielleicht, weil man zähneknirschend akzeptieren musste, dass der Gegenstand der Betrachtung zu umfassend ist, um durchschaut zu werden – noch dazu von einem Bestandteil seiner selbst, der sich nur allzu gern über ihn erhebt. Dementsprechend bietet das Kuss’sche Oeuvre auch die verschiedensten Nah- und Fernsichten seines Gegenstands, jedoch keine Einsicht. Noch da, wo sich das Auge auf jener Insektenebene fortbewegt, der das Wassertierchen Mensch entstammt, rückt die Kamera nicht weiter als bis zum Chitinpanzer vor. Der Schritt ins Innenleben – jenen Ort, an dem die biologischen und psychologischen Baustrukturen von Lebewesen transparent werden – bleibt aus.
Ob Kuss uns Tiere in der Stadt zeigt, die wie Schatten von Menschen wirken, oder die Schatten von Menschen, die sich einander anbieten wie verpisste Körperblumensträuße , um danach sexuelle Handlungen zu begehen wie sexuelle Begräbnisse: In der perspektivischen Verlorenheit seiner Fotografien findet sich kein Hinweis darauf, was menschlich ist und ob Fliegen, die sich fortpflanzen, menschlicher sind als Wölfe, die ständig Hierarchien durchspielen, ob verlassene Zweckbauten mehr vom Menschlichen verraten als explodierende Interieurs.
Der Mensch ist seit jeher von der Idee eines Kerns besessen: eines guten bei sich selbst, eines zumeist neutralen in der Welt der übrigen Objekte, die ihn nicht enthalten, seien es Hülsenfrüchte oder Atome. Obwohl Kuss’ Augen – und damit unsere – ausschließlich die Hülle jener Materie, die die Welt ist, abtasten, suggerieren diese Bilder und der in ihnen verkörperte Blick einen Kern, zu dem man jedoch weder durch Metaphysik, noch durch Atomspaltung vordringen kann. Fotografie kommt hier die undankbare (wenn auch ästhetisch nicht unergiebige) Aufgabe zu, diese Undurchdringlichkeit, die Isolation des Kerns in der Hülle, zu bezeugen. In diesem Zeugnis liegt nichts Euphorisches, kein „dionysisches Jasagen zur Welt, wie sie ist“, geschweige denn, dass es darin „privilegierte Situationen“ oder „vollkommene Momente“ zu entdecken gäbe. Kuss Fotografien repetieren jenen irritierenden Moment der Lektüre Kants, in der es möglich scheint, dass wir – anstatt von den Affen – von Scheiße abstammen, und verdichten ihn zu einem Testament der Materie.
Die belebte und unbelebte Materie liegt in diesem unvollständigen, da nie abschließbaren Fototestament nicht herum wie „blutige Massen, Kothgedärme, Eingeweide“ – eher wie benutzte, zu einem Knäuel verklebte Taschentücher. Man verwirft schnell den Gedanken, die „Wahrheit“ läge durch sie „offen zutage“ oder man könnte bei ihrem Anblick einen „wahren Blick in das Wesen der Dinge“ tun. Der Ekel, der sich bei dieser Vorstellung einstellt, hilft mir - Kant zum Trotz – nicht, diese Vorstellung „von mir zu stoßen“. Der Pilz der Tristheit, die Kuss vermittelt, befällt nicht ein einzelnes Körpersegment, sondern die gesamte Existenz. Dementsprechend hat der empfundene Ekel auch weniger mit Kants „Schmuz“ und „dunklen Vorstellungen“ tun, als vielmehr mit der Kontingenz der nichtsdestotrotz wuchernden Welt, wie Sartre sie – in Andenken an Nietzsches dreifachen Ekelruf - beschreibt: “Die Existenz überall, bis ins Unendliche, zuviel, immer und überall; (...) Habe ich sie geträumt, diese ungeheure Gegenwart? Sie lag da, auf diesem Park, war in diese Bäume gepurzelt, ganz wabbelig, alles verschmierend, ganz dickflüssig, eine Konfitüre. (...) Ich hasste diese widerliche Marmelade. Es gab noch und noch davon! Das stieg bis zum Himmel, das lief überallhin aus; (...) ich wusste wohl, dass das die Welt war, die nackte Welt, die sich auf einmal zeigte, ich erstickte vor Wut auf dieses dicke absurde Sein.“ Anders als Kant glaubt Sartre nicht an das „Zweckmäßige“ aller Natur: „Alles ist grundlos, dieser Park, diese Stadt und ich selbst. Wenn es geschieht, dass man sich dessen bewusst wird, dreht es einem den Magen um, und alles beginnt zu schwimmen: Das ist der Ekel.“
Die kontingente Marmelade ist das Wesen der Dinge; das, was uns als Hülle erscheinen will, ist in Wahrheit der Kern. In diesem desperaten Materialismus findet das fotografische Koordinatensystem von Kai Kuss seinen Nullpunkt. Seine Fotografien umkreisen diesen Nullpunkt nicht wie einen diskursiven, sondern wie einen geometrischen Punkt. Das Werk ist nichts als der Spiegel des Regelwerks, zu dem er gehört. Dem Hirn, das diesen Standpunkt entdeckt und eingenommen hat, steht es von da an nicht mehr frei, über die Welt, die sich seinem Auge darbietet, frei zu verfügen. Es kann Zeugnis über seine Entdeckung ablegen - sich eine eigene Meinung darüber zu bilden, wäre ebenso unsinnig, als wollte man sich über die Grundsätze der Geometrie eine eigene Meinung bilden.
In einem Text, dessen namenlos gebliebener Verfasser der Gnosis zugerechnet wird, heißt es, die Materie sei nichts anderes als das Gewand, das Luzifer im freien Fall verlor. (Woraus sich Kants Meinung von der Erde als „Abtritt des Universums“ erklären ließe.) Interessanter noch als das Gewand ist die Frage, was vor dem Gewand war. Worauf es gefallen ist und was nun unter ihm begraben liegt. Ob das Engelsgewand die Erde zum Scheißhaus macht oder ob es das Scheißhaus, das die Erde ist, prachtvoll umhüllt. Ob es einen mehr vor der Oberflächlichkeit oder dem verdorbenen Kern alles Irdischen ekeln soll. Schließlich könnte es auch sein, dass sich etwas Göttliches unter dem Stoff verbirgt, eine göttliche Materie unter der teuflischen. Damit wäre die Hülle sogar notwendig in dem Sinn, in dem Gott zu Moses sagte. „Mein Angesicht kannst du nicht schauen, denn kein Mensch sieht mich und bleibt am Leben.“ Der Engel Luzifer bliebe dann auch nach seinem Fall noch Vermittler zwischen Gott und den Menschen.
Wenn es gelänge, das, was unter dem Gewand Luzifers verborgen liegt, freizulegen, könnte es durchaus passieren, dass das Testament der Materie, das Kai Kuss mit seinen Fotografien angefertigt hat, mit einem Schlag ungültig ist angesichts einer Materie, die plötzlich lächeln kann.
¹Sartre, Jean Paul. Der Ekel, S. 152/153. Reinbek 1982.
²Siehe Anm. 14, S.149