• "Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A powerful use of image and poetry." ***** Roger Ballen, Photographer

  • "Terribly beautiful and fascinating" **** Richard Mosse

  • "Peter Truschner schont in seinen Texten über eine Welt, in der es um den Preis und nicht um den Wert einer Ware, der Arbeit oder des Lebens geht, weder sich noch den Leser." ***** Stefan Gmünder, Der Standard

  • "Peter Truschner belongs to the almost extincted sort of artists who always have to go all out." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A great amount of good photography." ***** Myrto Steirou, VOID

  • "Peter Truschner ist nicht nur ein wacher und sensibler Beobachter, sondern ein Erlebender des Wahnsinns, der um uns herum geschieht." ***** Martin Kusej, Burgtheater Wien

  • "Ist das immer schon so gewesen, dass man eines Tages hinter seinem warmen Ofen hervorgeholt und an den Haaren ans Ufer gezerrt und in die kalten Betriebsfluten getaucht und getauft wurde im Namen des Geschäfts?" ***** aus: Im Namen des Geschäfts

Copyright 2024 - Peter Truschner - All rights reserved // „Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Essays

 

Die Katastrophe ist das Glück

Eine Reise von Yangon ins südliche Myanmar


Es stört mich, dass ich nicht auf dem Landweg nach Myanmar einreisen kann. Ein schwedischer Journalist hat mir erzählt, dass man am Land noch mit Hühnern und Ziegen im Bus fährt, etwas, was mir zuletzt vor Jahren in Marokko passiert ist. In Gedanken sehe ich mich zu Fuß über die Grenze gehen und in einen solchen Bus einsteigen. Stattdessen fliege ich von Bangkok nach Yangon. Beim Anflug auf das Flughafengelände blicken einige Passagiere verwirrt durch die Bullaugen des Flugzeugs: Kann diese staubige Piste und das kleine Gebäude daneben wirklich der Flughafen der Hauptstadt Yangon sein?
2011 waren es 200.000 Touristen, die Myanmar besuchten, 2012 waren es bereits eine Million - eine Zahl, die von der Regierung erst für 2015 erwartet worden war und für die es im Grunde noch keine Infrastruktur gibt. Allein in Bangkok gibt es derzeit dreimal so viele Hotelbetten wie in ganz Myanmar. Dementsprechend groß ist das Gerangel, ein schlichtes Zimmer in einer Pension kostet 30 Dollar, Tendenz steigend, was auch damit zusammenhängt, dass das Übernachten in privaten Unterkünften noch streng reglementiert ist und einer behördlichen Genehmigung bedarf - eine Erinnerung an die Zeit der Militärdiktatur, als man den Kontakt der Bevölkerung mit Ausländern zu unterbinden suchte und man kaum ein offenes Wort zu sprechen wagte, da überall Spitzel lauerten.
Der Wagen des Taxifahrers ist ein in Myanmar einst flächendeckend verbreiteter, weißer 80er-Jahre-Toyota. Erst gestern war er noch der ganze Stolz seiner Besitzer, heute stapelt er sich auf einigen Schrottplätzen zu meterhohen Blechsäulen, morgen wird er schon das für alle erkennbare Stigma jener sein, die die neuen Verhältnisse für sich nicht in klingende Münze verwandeln konnten. Während der Fahrt beugt sich der Fahrer aus dem Fenster und entledigt sich eines bemerkenswerten Schwalls rötlicher Spucke, die sich beim Kauen zerhackter Betelnüsse vermehrt bildet. Die Nüsse wirken stimulierend und werden je nach Vorliebe mit Anis, Zimt oder Kardamon vermengt. Auf dieser Mischung herum zu kauen, stellt eine allgemeine Leidenschaft in Myanmar dar, die die Zähne rot färbt und manch einen Einheimischen in einen Vampir verwandelt, sobald er den Mund aufmacht. Die Stupa der Shwedagon Pagode, dem Wahrzeichen Myanmars, sitzt auf dem terrassenförmig angelegten Hügel Pegu Joma wie eine Krone auf dem Haupt der Stadt. Als ich sie im diesigen Spätnachmittagslicht durch das Geflecht der Banyanbäume zum ersten Mal erblicke, bin ich überrascht, welch stille, einnehmende Sogkraft sie trotz der pompösen Größe und der goldglänzenden Patina zu entfalten vermag. Auf dem Weg dorthin komme ich an einer baufälligen Kolonialvilla vorbei. Ein uniformierter Mann wacht Tag und Nacht über sie. Als er mich sieht, winkt er mich zu sich hinein, wo ich ihn fotografieren soll. Böden und Wände sind voller Risse und Löcher. Er betrachtet sich nickend auf dem Display meiner Kamera, dann trinken wir neben der Matratze, auf der er schläft, einen schwarzen Tee miteinander, der in Myanmar so milchig und süß ist, dass er etwas von einer flüssigen Süßspeise hat. Kurz darauf betrete ich einen kleinen Park mit einem See: „Happy Land“, verheißt ein Plakat. Während es als unziemlich gilt, sich in der Öffentlichkeit zu küssen, treiben auf dem See Tretboote mit der Form von Mickey Mouse und Donald Duck, die nur schwer einsehbar sind und in denen Paare wie wild knutschen.
In der Dämmerung machen sich die Menschen mit Autos, Bussen und Fahrradrikschas auf den Weg zur Pagode. Ich verschmähe den Lift, den es inzwischen gibt, und wähle den Aufgang über eine der sich steil und gerade ans Heiligste heranpirschenden Treppen. Dafür muss ich Schuhe und Socken ausziehen. Eine Horde Kinder hält mir Plastiksäcke entgegen, in die ich die Schuhe stecken soll. Dafür wollen Sie „Plastic Money“, ein Geschäft, das angesichts all der benutzten Säcke, die der Wind vor sich her treibt, dumm wäre - aber welcher Tourist ist gefeit vor einer solchen Dummheit? Als ich oben angelangt bin, sind es nicht die Monumentalität oder die vor den Augen der Touristen exerzierte religiöse Praxis, die mich in den Bann ziehen, sondern die Selbstverständlichkeit, in der sich die Leute rund um die Stupa niederlassen und das mitgebrachte Essen verzehren, lachen, darum bitten, fotografiert zu werden und sich in den dunklen Ecken im Arm halten. Junge Leute murmeln im Vorübergehen „Hello“ oder „Thank you very much“, wenn man etwas antwortet oder auf sie zugeht, müssen sich die Mädchen vor Lachen mit den Händen Luft zufächern, eine Szene, so absurd und unschuldig, dass man sich fühlt wie ein glücklich lächelnder Tor in einem mittelalterlichen Versepos.
Nur hundert Meter neben der Sehenswürdigkeit beginnt in Yangon das Niemandsland, in dem ein Tourist ein in Freiheit lebendes Tier ist, das man gleichsam anstarrt, als liefe es in einem Käfig auf und ab. Die architektonische Pracht der britischen Kolonialära hat sich erhalten, ein touristisches Gold, das ein wenig an Havanna erinnert. Ins Wanken geraten sind dagegen die alten Gewissheiten. Bis vor kurzem wäre es unmöglich gewesen, ein staatliches Gebäude mit der Kamera in der Hand zu betreten. Ich mache genau das und treffe auf Leute, die nicht wissen, wie sie reagieren sollen. Sollen Sie mich rausschmeißen? Habe ich eine Erlaubnis? Oder brauche ich vielleicht gar keine Erlaubnis mehr? Es ist den Mienen der Angestellten abzulesen, dass sie selbst nicht wissen, wie weit es mit ihrer vom Militär überraschend gewährten Freiheit inzwischen gekommen ist. China, USA, Japan: alles giert nach den burmesischen Rohstoffen. China National Petroleum baut gerade mit der üblichen Rücksichtslosigkeit eine Erdgaspipeline quer durchs Land, aber im Gebäude finden sich nur zwei Büros, in denen ein Computer steht. Einige Räume haben statt Türen Vorhänge und bieten gerade soviel Platz wie die Kabine eines Passfoto-Automaten.
Die Nacht ist noch voller Geheimnisse, es gibt noch keine Spielhöllen, kein Rotlichtmilieu, die für gewöhnlich die Orientierungspunkte für den touristischen Stalltrieb bilden. Beim Nachhausegehen treten aus der Dunkelheit Männer an einen heran, dass man zusammenzuckt, sagen: „Taxi!“ und zeigen dabei auf die Straßen, die schlecht beleuchtet und voller knurrender, ängstlicher Hunde sind, während die Gehwege halsbrecherische Spalten haben, in denen sich das stinkende Abwasser staut. Diese Sorge um das Wohl des Besuchers findet seinen amtlichen Ausdruck in der Aufforderung, „Please, warmly welcome and take care for tourists“, die auf Busbahnhöfen und in Zügen aushängt. Als mir am nächsten Tag auf der Zugfahrt mit der Yangon Circle Line das Wasser ausgeht, springt ein Junge auf Anregung einiger Erwachsener beim nächsten Halt aus dem Zug und besorgt mir eine neue Flasche. Die Leute freuen sich über die Öffnung ihres Landes, der Tourist, der staunend durch ihre Welt stapft, ist ein Symbol dieser Öffnung und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Man wird wohl nie mehr - ohne etwas dafür getan zu haben - ein Bad im Wohlwollen einer derart großen Zahl fremder Menschen nehmen können wie zur Zeit in Myanmar, ein Wohlwollen, das eine Vertrauen erweckende, einlullende Wirkung hat wie ein Schlaflied.
Einem Impuls folgend, steige ich nicht in einen vollklimatisierten Premium-Bus nach Bagan oder Mandalay, sondern reise in den Süden, eine Route, die bisher fast nur Tagesausflügler und Backpacker wählen. Auf dem Weg dorthin erzählt mir ein Burmese, dass er ein Jahr zur See fahren und dabei 18000 Dollar verdienen wird, ein Lohn, der ihn schlagartig zum wohlhabendsten Mann seiner Umgebung machen wird. Von dem Geld möchte er zwei Lastwagen kaufen und ein Transportunternehmen gründen, irgendwann vielleicht eine Schiffsagentur. Sein Leben ist nicht mehr - wie es in Myanmar über Jahrzehnte üblich war - der Bewältigung der Gegenwart, sondern der Zukunft geweiht. Unterwegs will ich beim Goldenen Felsen von Kyaiktiyo aussteigen, ein runder, mit einer goldenen Patina überzogener Brocken, der sich auf der schrägen Kuppe eines Berges der Legende nach nur dadurch hält, dass im Inneren der kleinen Pagode, die auf ihm errichtet wurde, ein Haar Buddhas ein ewiges Gleichgewicht herstellt. Alles stürzt hinaus, aber der Seemann hält mich zurück. „Cannot see“, sagt er und hat Recht: Die Patina wird gerade ausgebessert, der Felsbrocken ist verhüllt. Der Anstieg in der Hitze ist steil und lang, ich stelle mir die Gesichter der erschöpften Touristen bei ihrer Ankunft vor.
Mawlamyine, die mit 300.000 Einwohnern drittgrößte Stadt Myanmars, war von 1826 bis 1852 die Hauptstadt der britischen Kolonie Birma. Orwell diente hier bei der Polizei, Kipling machte die Stadt berühmt mit seinen Verszeilen: „By the old Moulemein pagoda, looking lazy at the sea…“. Verschlafen wirkt die Stadt noch immer, an deren Küste drei Flüsse ins Meer münden und der Sonnenuntergang sich über das Wasser ergießt wie Honig aus einem umgestoßenen Glas. Wieder tobt der Kampf ums Zimmer, es gibt nur eine Handvoll Unterkünfte, ich lande in einer Art bunt lackierter Konservendose, in der ich gerade stehen und beinah ausgestreckt liegen kann, und deren Wände dünn sind wie Papier. Einmal in der Stunde fällt für eine unbestimmte Zeit der Strom aus, der hier fast überall von alten Dieselgeneratoren geliefert wird.
Rund um den Hügel, auf dem Kiplings Pagode steht, verzweigt sich eine riesige Klosteranlage. Ich erkunde die Anlage, die Mönche mustern mich erstaunt, aber lassen es zu. In den nächsten Tagen werde ich ihnen beim Fegen des Hofs, beim Waschen der Wäsche von Hand und beim Meditieren zusehen; ihnen beim Holzhacken helfen; mit ihnen in einer lichtdurchfluteten Säulenhalle Fußball spielen und mir hinterher mit einer Blechschüssel aus einem Brunnen kaltes Wasser über Kopf und Oberkörper gießen. Es erscheint unvorstellbar, dass gleichzeitig im Bundesstaat Rakhaing an der Grenze zu Bangladesh buddhistische Mönche religiöse Hetzschriften verfassen und sich an den rassistisch motivierten, systematischen Gräueltaten gegen die bengalischen Rohingya beteiligen.
Mit einem jungen Engländer fahre ich ins Landesinnere zur Tempelhöhle Saddar. Mein Begleiter trägt einen karierten Longyi, der bis zu den Knöcheln reicht und um die Hüften gewickelt wird. Nach zweistündiger Busfahrt müssen wir umsteigen, die Reissäcke auf der Ladefläche eines Pickup dienen uns als Sitze. Ein Kind schläft auf einem Sack, während die Mutter eine Cheroot raucht, eine burmesische Zigarre. Der "Tabak" besteht aus Cheroot-Blättern und Zusätzen wie Tamarindensaft, Holzstückchen, Nüssen und Palmzucker; der Filter aus Maisblättern. Ihre Wangen, Nase und Stirn sind - wie die der meisten Burmesinnen - teilweise mit einer hellen Paste aus Thanaka-Rinde bedeckt, die sowohl vor der Sonne schützt als auch als eine Art Make-up benutzt wird. Als wir den Eingang passieren, macht sich Sprachlosigkeit breit: die Höhle ist eine Kathedrale, die sich tief in den Fels hineingräbt, flankiert von goldenen Buddhas. Die Beleuchtung ist dürftig, ich sehe den zerklüfteten und glitschigen Weg nur mit Hilfe der Taschenlampe auf meinem Handy. Wer hier ausrutscht, sich den Schädel anschlägt und abseits des Pfads liegen bleibt, verreckt unbemerkt. Am Ausgang erwartet uns ein See. Das Wasser ist schilfgrün, Kinder tauchen auf den Grund und befördern Krebse und Muscheln an die Oberfläche. Wir besteigen ein Boot, das uns durch einen Kanal unter der Felskathedrale hindurchführt. Den letzten Teil müssen wir zu Fuß gehen, da der Kanal nicht genug Wasser führt und sich inmitten des Schilfs und der Reisfelder verliert. Der Engländer ist entsetzt, er hat nur Sandalen an und von den vielen Menschen gelesen, die in Myanmar an Schlangenbissen sterben. Am Eingang der Höhle wartet nur noch ein Moped-Taxi auf uns, auf das wir uns beide setzen und das nach zehn Minuten einen Platten hat. Sengende Hitze, absolute Stille, kein Haus weit und breit. Der Taxifahrer sieht unglücklich aus, unternimmt jedoch nichts weiter, als sich hinzusetzen und sich eine Cheroot anzuzünden. Mein Begleiter ist außer sich, er hat Angst, den letzten Bus zu versäumen und spricht auf den Mann ein, der ihm lächelnd zunickt. „In Burma zu reisen ist eine Katastrophe“, schreibt Cees Nooteboom 1986. „Selten habe ich eine glücklichere Reise gemacht. Beides ist miteinander verzahnt. Die Katastrophe ist das Glück“. Die Verwirrung darüber, was vorgeht und wie die Dinge einzuordnen sind, ist der eigentliche Sinn einer solchen Reise. Das Tappen im Dunkeln erinnert daran, dass man es sich zu Hause in einem Nest von Scheingewissheiten und Ritualen gemütlich gemacht hat, deren Fundament der gesellschaftliche Konsens ist, nicht die nackte Wirklichkeit. Gibt man sich dieser Verwirrung hin, ist man vom manchem Druck befreit: Erfolg, Pünktlichkeit, Vollständigkeit spielen kurzfristig keine Rolle mehr.
Ich fahre mit dem Zug nach Yangon zurück. Es gibt drei Klassen, der Mann am Schalter lässt mich in die erste davon führen, alles andere wäre für mich „not good“. Schon bald wird mir klar, warum. Die Gleise sind in einem derart schlechten Zustand, dass die Zugfahrt zum Ritt auf einem störrischen Pferd wird. Wer im Gegensatz zu mir statt auf Polstern auf den Holzpritschen der dritten Klasse oder gar am Boden sitzt, hat am Ende unfreiwillig Schwerstarbeit verrichtet.
Immer wieder bleibt der Zug auf offener Strecke stehen, Händler steigen ein und bieten Früchte, hart gekochte Vogeleier und Zigaretten an. Am Ende werden wir für die 350 Kilometer vierzehn Stunden gebraucht haben. Wir fahren im Schritttempo an einem entgleisten Waggon vorbei, der wie ein riesiger, toter Käfer neben den Gleisen liegt. Der Mann neben mir sagt „yesterday, two dead“, und kurz darauf „you“. Er lacht sich kaputt bei dem Gedanken, ich könnte, wenn ich einen Tag früher gefahren wäre, eines der Opfer sein. Dieser Humor ist all den Widrigkeiten geschuldet, denen die Bevölkerung Myanmars lange Zeit ausgeliefert war, schutzlos, abgeschnitten von der Welt. Die Situation ist so absurd, das ich nicht anders kann, als in das Gelächter einzustimmen und das zu tun, wozu ein Aufenthalt in Myanmar unweigerlich einlädt: sich des Lebens in all seiner Widersprüchlichkeit zu erfreuen.

 

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