Essays
Ich frage mich: Was ist mit dem Neid?
Anmerkungen zu einem österreichischen Charakteristikum
Die Infrarotaufnahme zeigt einen Punkt, der an eine Mikrobe denken lässt, die sich in der Finsternis eines Verdauungssystems ungewöhnlich schnell fortbewegt: Felix Baumgartner ist gerade aus seiner Kapsel gesprungen und fällt in die Tiefe. Wird er den Rekord im freien Fall ohne Falschschirm brechen oder ihn vielleicht respektvoll seinem Vorgänger Kittinger überlassen, der ihm dabei geholfen hat, so weit zu kommen? Plötzlich zeigt der Bildschirm einen sich drehenden, taumelnden Stratonauten. Baumgartner wird später davon sprechen, dass er kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren. Die Sache geht jedoch für alle bekanntermaßen gut aus: für Baumgartner, für die Zuseher und nicht zuletzt für Dietrich Mateschitz und seine österreichische Weltmarke Red Bull.
Interessant sind dabei aus österreichischer Sicht nicht nur die Veranstaltung selbst, sondern auch die unzähligen Kommentare der Internet-Community, die sich im Anschluss an die Beiträge der Onlineausgaben österreichischer Medien befinden. Neben der Entäußerung individueller („Hab’ mir fast in die Hosen gemacht!“) als auch kollektivistischer („Immer wieder Österreich!“) Gefühlsanwandlungen gibt es auch Kritik an der Aktion, teilweise sachlich, teilweise ebenso verunglimpfend wie die sofortige Reaktion darauf. Auf beiden Seiten fällt dabei immer eines der Hauptwörter aus der Grammatik des österreichischen Alltagslebens: Neid. Wobei der Neid in unterschiedlichem Gewand auftritt, unterschiedlichen Motiven entspringt und verschiedene Funktionen erfüllt, die letztlich demselben Boden entwachsen: der österreichischen Neidgemeinschaft, der unfreiwillig auch jene angehören, denen dieses Gefühl fremd ist. Diese Neidgemeinschaft wird zumeist mehr beschrieben als begründet. In unzähligen Texten finden sich illustre Hinweise auf eine mehrheitlich „katholisch geprägte Landbevölkerung“ oder eine dem k. und k. Hofstaat geschuldete „Beamtenmentalität“, denen im Kern eine gewisse kulturelle oder historische Relevanz zukommt, die aber nicht erklären können, warum das im Jahr 2012, in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung, immer noch so ist.
Eine Grundvoraussetzung ist der zwar im demokratischen System verankerte, de facto jedoch nicht vorhandene freie Zugang der Bevölkerung zu den politischen und wirtschaftlichen Ressourcen. In Österreich herrscht nur bedingt der freie Wettbewerb der Ideen und Talente, wer wirklich vorankommen möchte, muss sich zwingend in das bestehende System integrieren. Eine Unausweichlichkeit, die ein Österreicher gewissermaßen mit der Muttermilch aufnimmt. Wer es zu etwas bringen will, muss sich mit Vereinen, Innungen, Kammern, Genossenschaften, Behörden, Verbänden, Gewerkschaften, Parteien, Burschenschaften, Clubs und Logen arrangieren, eigentlich: sich dem System, für das sie stehen, unterwerfen und damit dauerhaft seinen Frieden machen. Obwohl es korporative Zwänge dieser Art natürlich auch im übrigen Europa gibt, dienen sie meist nur als Filter, der den Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen reguliert. In Österreich sind sie jedoch längst zum Eigentlichen geworden, zur gesellschaftlichen Totalität. Der allgemeine Jammer über die EU-Administration hat daher eine betriebslinde Komponente, da Brüssel in der Verschränkung von Politik, Lobbyismus und Selbstbereicherung geradezu wie ein Musilsches „Weltösterreich“ wirkt.
Da der Ehrgeiz des Durchschnittsösterreichers im Wissen um diese Gegebenheiten nicht besonders entwickelt ist, er diese Gegebenheiten lieber immer wieder verdrängt, anstatt gegen sie aufzubegehren, erschöpft sich die Vorstellungskraft der meisten im Anhäufen von Besitz und der Verwirklichung einer unterschwellig von Frustration genährten Bequemlichkeit, die sich auch darin äußert, dass man nach oben buckelt und nach unten tritt. Diese Bequemlichkeit ist dem Österreicher heilig, eine Störung derselben - und sei es in Gedanken - absolut unerwünscht. Vielen fällt es nicht wirklich schwer, zurückzustecken, sich zu bescheiden - nicht zuletzt, weil in Österreich wirklich Karriere zu machen zumeist immer auch bedeutet, dass man es sich auf unbestimmte Zeit in verschiedenen Hintern wie in einem Wohnzimmer gemütlich machen muss, ausgestattet mit einem Rosettenblick auf die Welt sowie einer Enddarmsitzgarnitur. Eine für die durchschnittlich sensible Seele unappetitliche und mit beträchtlichen Mühen verbundene Vorstellung, der nur derjenige gewachsen ist, der sich unermüdlich vor Augen hält, dass sich die Scheiße, in die er greifen muss, für ihn irgendwann einmal in Gold verwandeln wird. (Oder, wie ein Dozent mir einmal darlegte, nachdem ich wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität geworden war: „Zuerst müssen Sie ein paar Jahre lang der Institutsarsch sein, und wenn Sie das aushalten, dann dürfen Sie sich auch einen Arsch suchen.“)
Dieser destruktive, das Spiel der freien Kräfte verunmöglichende gesellschaftliche Überbau wird detailgetreu in den Binnenmilieus von Gemeinden, Firmen und nicht zuletzt Familien reproduziert. Gemäß dem Freudschen Diktum vom „Narzissmus der kleinsten Differenz“ achtet der, der sich selbst beschränkt, penibel darauf, dass es der Verwandte, der Nachbar, der Kollege gefälligst auch tut. Wehe, der andere nimmt sich eine Freiheit, die man sich selbst nicht gegönnt hat, und verfügt dabei sogar noch über Talent und Willenskraft - dann sind ihm die nur mühsam verborgene Aggression und die Missgunst nicht weniger Mitmenschen sicher.
Wie groß ist da die Genugtuung, wenn einer, der es probiert hat, es schließlich doch nicht schafft! Dass er (wenn möglich schmerzhaft) aus der Sphäre der gelebten Träume auf den zementgrauen Boden der Tatsachen zurückgeholt wird, wirkt auf nicht wenige Österreicher wie ein kleiner Orgasmus, der sich aus dem Glück am Unglück der anderen speist. In die Begeisterung über Baumgartners Erfolg ist gewissermaßen schon jetzt die Freude an seinem möglichen, künftigen Misserfolg verwoben. Wenn er einmal ein absurd großes Risiko nimmt oder eine zu große Selbstzufriedenheit an den Tag legt und im Urteil der Leute „abhebt“, anstatt „bodenständig“ und „einer von uns“ geblieben zu sein, dann geht es ihm schnell wie jenen tödlich verunglückten Bergsteigern, denen in den Kommentaren zur Unglücksmeldung ungefragt und roh bescheinigt wird, „selber schuld“ zu sein und ohnehin schon immer ein der eigenen Familie gegenüber „verantwortungsloses Leben“ geführt zu haben. Oder Sportlern wie Dinko Jukic, die im Grunde deshalb angefeindet werden, weil sie sich nicht klein machen und ihre Meinung in einer Weise vertreten, die sich nicht darum schert, ob sie der Allgemeinheit genehm ist oder nicht. (Man denke an all die Häme, mit der Marko Arnautovic geradezu übergossen wurde, der im Grunde nur ein simpel gestrickter, großmäuliger Junge ist, dem der allzu frühe Erfolg zu Kopf gestiegen ist.) Wenn man sich dazu noch die Strukturen und die Besetzungspolitik der einzelnen Gremien von ÖFB und ÖOC bis hin zu irgendwelchen Landesverbänden zu Gemüte führt, wundert es einen nicht mehr, warum die Fußballnationalmannschaft über einen so langen Zeitraum ein derart tristes Dasein führte oder warum es bei einer Sommerolympiade nicht eine einzige Medaille gibt. (Die Tatsache, dass kein einziger österreichischer Künstler zur diesjährigen „Documenta“ eingeladen wurde, juckt naturgemäß niemanden, schlägt weder medial noch politisch irgendwelche Wellen, weil sich in Österreich ohnehin nur eine lächerlich geringe Anzahl von Menschen für Gegenwartskunst interessiert und sich jeder darin eingerichtet hat, dass die Vermittlung österreichischer Kunst und Kultur vor allem eine Tourismusveranstaltung zwischen Mozart und Klimt zu sein hat.)
Baumgartners Erfolg ist nicht zuletzt deshalb so umfassend, weil er stratosphärische Dimensionen hat, dem eigenen Alltag also völlig enthoben scheint und daher bedenkenlos konsumiert werden kann wie ein Blockbuster aus Hollywood. Ganz anders verhält es sich da bei seinem Förderer, Dietrich Mateschitz. Der einstige Kaffeevertreter hat sich entgegen aller ungeschriebenen österreichischen Gesetze seine Träume verwirklicht, eine Weltfirma aufgebaut, noch dazu mit einem im Grunde sinnfreien, geradezu verspielten Produkt.
Keine Wunder, dass ihm auf österreichischen Internetportalen einerseits Verehrung, anderseits abgrundtiefer Hass entgegenschlägt. Hat er doch (als alles überstrahlender Repräsentant einer unsichtbaren Verbindung von Sportlern, Biobauern, nachhaltigen Energieunternehmern, Künstlern,…) etwas geschafft, das - gemessen an den österreichischen Verhältnissen - viele nicht nur für unmöglich, sondern geradezu unstatthaft halten: Im Grunde gehört sowas verboten