Erzählungen
Myanmar Triptychon
Ein Kind
Ich trete aus dem Schatten heraus. Reflexe, Zuckungen der Materie. Zwischen Schilf und Staub ist die Zeit nicht mehr als eine Grabbeigabe oder eine Fliege, die über dem Küchentisch ihre Kreise zieht. Im rostigen Harnisch läuft die Zukunft mit. Die ungeahnte Erdnähe meiner Sonnenwangen, Sonnenarme, Sonnenknöchel. Eine Glückseligkeit nistet in meinem Gesicht, ich halte es für möglich, Wurzeln zu schlagen, ohne anzukommen oder mich positionieren zu müssen. So stand Nero über Rom, im Hochgefühl. Das Gehen inmitten verdorrter, verkohlter Reispflanzen. Ein Reiskorn ist ein verkapptes Universum, es besteht aus Wasser, Eiweiß, Fett, Natrium, Kalium, Magnesium, Calcium, Mangan, Eisen, Kupfer, Zink, Phosphor, Selen, Folsäure, Vitaminen und Aminosäuren, es sagt: Benutz mich, nähr Dich von mir!
...die Landschaft, die keine andere Arbeit hat, als auf das Verschwinden des Menschen zu warten… Die Landschaft gebiert freundlich gesonnene Ungeheuer, Träume vom Loslassen, Verlassen, Zurücklassen. Spuren, die verwehen, Worte, die versickern. Aber da ist diese in einem sinnlichen Leib, einem empfindlichen Bewusstsein nie zur Ruhe kommende Wachsamkeit, jene Kundschafter- und Wachtpostenmentalität der Urhorde, mit der man einst durch die Wälder und Ebenen streifte. Ich höre, also bin ich hingezogen, ausgesandt von meinem menschlichen Drang nach Neuerung und Fortschritt, dem Ursprung der Laute auf den Grund zu gehen, die an mein Ohr dringen. Ich: Angst vor meinem Zufallsnamen.
Ich folge der Schlangenspur des Wassers. Insekten. Spiegelungen. Ein See tut sich auf, das Auge gleitet über die Oberfläche. Der See ist klein, eher ein Weiher, und dennoch groß genug für eine Hütte am Ufer, ein Boot und Netze, die auf einem Seil hängen, das zwischen zwei Bäumen gespannt ist. Ein Mann macht sich an den Netzen zu schaffen, er hält inne, als er mich näher kommen sieht. Ich beuge meinen Kopf zum Gruß, er tut es mir gleich und lächelt. Im nächsten Augenblick dreht er sich ein wenig zur Seite und entledigt sich eines Schwalls rötlicher Spucke, die sich beim Kauen zerhackter Betelnüsse bildet. Die Nüsse werden je nach Geschmack mit Anis, Zimt oder Kardamon vermengt. Auf dieser stimulierenden Mischung herumzukauen, stellt eine Leidenschaft in Myanmar dar, die die Zähne blutrot färbt. Das getrocknete Blut qualmt in der Sonne, Schüsse knallen in meine torkelnde Flucht.
Die Laute gehören zu einer Gruppe von Kindern, die im See schwimmen. Sie tauchen unter und wieder auf, ich versuche sie zu zählen, es sind vier, fünf, keines davon augenscheinlich älter als zehn Jahre. Ihre braune, feuchte Haut schimmert in der Sonne, die nassen Haare kleben am Kopf, es ist auf die Distanz nicht auszumachen, wer ein Mädchen ist oder ein Junge. Der Mann kaut auf seinen Betelnüssen, er hat einen glasigen Blick. Ich: im Regen aus Vogelkot, im Kalkfell. Die Kinder geben sich keinem Vergnügen hin, sondern tauchen nach Muscheln und Krebsen, die sie in einem Beutel verstauen, den sie um ihr Handgelenk gebunden haben. Ich trete näher ans Ufer heran und kann der Versuchung nicht widerstehen, mir die Sandalen auszuziehen und ein paar Schritte ins Wasser zu gehen. Der Mann ruft mir etwas zu, das ich nicht verstehe, aber als Ermunterung begreife (oder begreifen will). Ich blicke zwischen seinem Vampirlächeln und den Kindern hin und her, die mir winken und zurufen. Ich spüre ein Schamgefühl in mir hochsteigen, ich hege den Verdacht, eine Ungehörigkeir zu begehen, Zeichen falsch zu deuten, und ziehe mir vielleicht gerade deshalb rasch das T-Shirt aus. Die Kinder schwimmen mir entgegen, lachen, starren mich an. Als eines von ihnen wie zufällig eine Stelle auf meiner Haut berührt, die unter dem T-Shirt bleich geblieben und nicht von der Sonne verfärbt ist, tun es ihm die anderen gleich. Ein Junge hält seine glatten, dunklen Arm gegen meine behaarte, weiße Brust und sieht mich dabei an, als fordere er mich auf, über die Wunder dieser Welt zu staunen. Ich sehe, wie es sich im Beutel an seinem Handgelenk regt. Er folgt meinem Blick, hebt den Beutel vorsichtig in die Höhe und öffnet ihn gerade so weit, dass die Krebse nicht herausschlüpfen können. Dann lässt er ihn wieder los, und der kleine Schlitz, der wohl die letzte Gelegenheit für die Tiere war, mit heiler Haut davonzukommen, zieht sich zusammen. Die Kinder machen sich fertig zum Tauchen, sie wollen mir zeigen, wie flink und tüchtig sie sind. Der Junge, der mir seinen Arm gegen die Brust gehalten hat, fordert mich mit einer ruckartigen, universell gültigen Bewegung seines Kopfes auf, ihm in die Tiefe nachzufolgen. Ich atme durch, schließe die Augen und bin schon auf dem Weg nach unten. Finsternis. Das Echo der Ängste. Obwohl es mir widerstrebt, ist der Wunsch nach Orientierung stärker, und ich öffne unter Wasser die Augen. Der See ist nicht tief, ich sehe die an den Konturen verschwimmenden Körper der Kinder unter mir. Wie sie über dem Grund schweben und die Muscheln in ihre Beuteln verstauen, erinnern sie eher an junge Raubtiere auf der Jagd als an Menschen. Das Wasser ist grünstichig. Ich bin es nicht mehr gewohnt, die Luft so lange anzuhalten und will an die Oberfläche, um noch einmal kräftig Luft zu holen. Auf dem Weg nach oben schwimmt ein Kind näher an mich heran, dessen Gesicht ich zuerst nicht klar erkennen kann. Erst als ich das Weiße in seinen Augen sehe, trifft es mich wie ein Schlag: Im Arm die Lanze, deren Spitze blinkt, im Dunkel, das die Sonne trinkt, im Lidschlag zwischen Stoß und Stich, sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.
(…)