• "Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A powerful use of image and poetry." ***** Roger Ballen, Photographer

  • "Terribly beautiful and fascinating" **** Richard Mosse

  • "Peter Truschner schont in seinen Texten über eine Welt, in der es um den Preis und nicht um den Wert einer Ware, der Arbeit oder des Lebens geht, weder sich noch den Leser." ***** Stefan Gmünder, Der Standard

  • "Peter Truschner belongs to the almost extincted sort of artists who always have to go all out." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A great amount of good photography." ***** Myrto Steirou, VOID

  • "Peter Truschner ist nicht nur ein wacher und sensibler Beobachter, sondern ein Erlebender des Wahnsinns, der um uns herum geschieht." ***** Martin Kusej, Burgtheater Wien

  • "Ist das immer schon so gewesen, dass man eines Tages hinter seinem warmen Ofen hervorgeholt und an den Haaren ans Ufer gezerrt und in die kalten Betriebsfluten getaucht und getauft wurde im Namen des Geschäfts?" ***** aus: Im Namen des Geschäfts

Copyright 2024 - Peter Truschner - All rights reserved // „Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Erzählungen

 

Die Kärntnerwurst

Die Arbeitshose meines Großvaters erinnert an eine ausgetrocknete Speckschwarte: Sie legt sich um das schwindende Muskelgewebe seiner Beine wie ein Panzer. Ihr matter Glanz zeugt ebenso von seiner Angewohnheit, sich nach dem Essen die Finger am blauen Baumwollstoff abzuwischen, wie von der Tatsache, dass sie seit Großmutters Herzinfarkt vor drei Jahren nicht mehr gewaschen worden ist.
In diesem Augenblick hat er das Menschsein hinter sich gelassen, ist wieder zum Tier geworden: zur Katze, die verdutzt ertragen muss, wie sie in die Luft gehoben und in ein pelziges Flugobjekt verwandelt wird; zu einem Käfer, der auf dem Rücken liegt – obwohl es nicht unmöglich ist, dass er sich noch einmal umdreht, ist es eher unwahrscheinlich. Großvater ist dem Tod jetzt näher als in seinen krätzigen Hustenanfällen, deren Zweck nicht zuletzt darin besteht, andere an seinem unübersehbaren Verfall teilhaben zu lassen - in der Hoffnung, sie im einen oder anderen Fall damit anzustecken.
In diese ausweglose Situation gebracht hat ihn die Klagenfurter Verwandtschaft – vielleicht aber auch Gott, der ein geeignetes Subjekt zum Ausleben seiner zynischen Seite gefunden hat. Die ganze Zeit über, in der meine halbseitig gelähmte Großmutter mit vom Infarkt verzogenem Mund mal um ein Wunder, mal um den Tod bettelte, haben ihre Verwandten sich nicht um sie gekümmert. Als Großvater ihr – ob aus Verzweiflung, Überdruss oder weil er einfach beim Fernsehen seine Ruhe haben wollte – das Nasenbein brach, waren ihre beiden Brüder umgehend informiert worden, ließen sich jedoch nicht blicken. Aus gutem Grund: Das Leidige, Gefährliche am siechen Menschen ist, dass man sich in seiner Gegenwart das Denken verderben kann und alle Sinne noch dazu. Flüchtig besehen und beschnüffelt ist er nicht mehr als ein übrig gebliebener Speiserest, der im Kühlschrank mürb geworden ist und zu faulen beginnt. Hält man sich jedoch zu lange oder zu oft am Bett eines Sterbenden auf, wirft sein Vergehen unweigerlich einen Schatten auf die im Alltag wohlverdrängte eigene Vergänglichkeit. Da ist es gut, dass die Großmutter endlich tot und der Großvater so alt ist, dass er dem Klagenfurter Aufgebot an Anständigkeit, das mit den Verwandten in seinem Haus Einzug hält, nichts entgegenzusetzen hat. Früher wären seine sparsamen, ausschließlich nach den Erfordernissen der Lebenserleichterung justierten Gedanken- und Körperbewegungen gehörig in Gang gekommen: Sein Kopf wäre hin und hergezuckt wie der Körper eines in seiner Tagesruhe aufgescheuchten Reptils; sein Sprechen wäre ein Spucken ins Gesicht seines Gegenübers gewesen. Sein Stock, mit dem er mich – im Gegensatz zu meiner Mutter – nie geschlagen hat, befand sich neben der Kredenz, sein Sturmgewehr aus dem Zweiten Weltkrieg auf dem Dachboden. Bedrohlicher noch als beides zusammen war sein glühender Wille, der ihn von der Stirn über den Hals hinab bis zur Brust zornesrot färbte – ein Rot, das an ihm nichts anderes signalisierte als an Spinnen oder Schlangen: die Bereitschaft, sich mit den zur Verfügung stehenden Waffen zu verteidigen.
Aber nun gibt es das Begräbnis, danach den Leichenschmaus, bald darauf die Testamentseröffnung. Die allerorts geschätzte, wohlfeile Abwicklung der Toten entfacht bei den leiblichen Verwandten der Großmutter einen wahren Furor. Sie zerren an Großvater herum, stoßen ihn, halten ihn fest, reißen ihm die Kleider vom Leib. Er ist nicht zur Totenmesse seiner Frau erschienen. Er gedachte den Tag des Begräbnisses offensichtlich nicht anders zu begehen als andere Tage auch – an seinem Fensterplatz, in Gesellschaft einer Packung filterloser Zigaretten und einer Flasche Bier. Nun muss er es über sich ergehen lassen, wie die Verwandten ihn in jenes Kleidungsstück zwängen wollen, das die Lavendelatmosphäre des Kleiderschranks über die Jahre so selten verließ, das es inzwischen selbst als Mottenschutz taugt: sein Kärntneranzug. Großmutter hatte ihm den Anzug zur silbernen Hochzeit geschenkt, während er sich an das Hochzeitsdatum gar nicht erinnern konnte. Er trug ihn so lange, bis sein wachsender Wanst das Zuknöpfen von Hose und Weste unmöglich machte. Einen Anlass, sich einen neuen zu kaufen, gab es nicht, da meinem Großvater sowohl die Tradition, als auch die Kärntner gestohlen bleiben konnten. Letzteres, weil die Kärntner nun mal nicht er waren und er sie im Wirtshaus auch nicht dazu überreden konnte, in derselben Weise seinen Willen zu tun, wie ihm dies bei seiner Frau gelungen war. Die Dorfvereine schmähte er lautstark. Er, der ein einfacher Straßenarbeiter gewesen war, schloss sich zuerst Deutschland an, dann meiner Großmutter, deren Hof zufällig in Kärnten lag. Ob man es gerne hört oder nicht: Er schiss auf das K, auf das ä, auf das r, auf das n, auf das t, auf das e, auf das n: auf Kärnten an und für sich.
Wer sich das vor Augen hält, kann nur den Kopf schütteln über die Ironie des Schicksals, das beschlossen hat, ausgerechnet ihn noch einmal als Paradekärntner vorzuführen, auf dass er endlich in jener ackerbraun uniformierten Menge untergeht, der er sich entschlossen verweigert hat. Er ist dünner geworden, kleiner. Das Leben zieht sich langsam aus ihm zurück, und es ist zu befürchten, dass ihm der Anzug nun wieder passt. Zuerst aber prallen die Verwandten vor seiner langen Unterhose zurück, deren Rückseite eine Art brauner Bremsspur und deren Vorderseite ein Urinfleck ziert, der so groß ist wie eine Männerhand. Die Verwandten sind unschlüssig: Gibt es frische Unterwäsche? Muss vielleicht gar ein Waschlappen ran? Wenn ja, wer wischt dem Alten freiwillig den Arsch? Ein junger Mann, ebenfalls im Kärntneranzug – vielleicht ein Großneffe der Verstorbenen, der ihn zum ersten Mal sieht – blickt auf die Uhr: Nicht mehr lange, und der Leichenzug setzt sich Richtung Friedhof in Bewegung. Also hebt man Großvater zu viert hoch und presst ihn samt schmutziger Unterwäsche in die Anzughose wie Fleisch in einen Schweinedarm: Fertig ist die Kärntnerwurst. Als man jedoch aus dem halben Sonntagsstaat einen ganzen machen will, zeigt sich, dass die Anstrengungen der Verwandten ebenso vergeblich waren wie die Lavendelsäcke meiner Großmutter: Die Anzugjacke ist von Mottenlöchern übersät, andere Kleidung, die dem Anlass angemessen wäre, gibt es nicht. Umgehend macht sich Enttäuschung breit. Kurz steht zu befürchten, dass jemand Großvaters Stock hervorholt und damit auf ihn eindrischt. Doch nichts dergleichen: Er wird einfach auf den Boden fallengelassen.
Der junge Mann drängt: Der Leichenzug wird bald um die Ecke kommen. Die Verwandten machen ihrer Verachtung Luft. Einer greift Gottes Entscheidung voraus und garantiert Großvater einen Platz in der Hölle. Ein anderer begnügt sich nach langem Nachdenken damit, ihn einen Sauhund zu nennen.
Als sie gegangen sind, rappelt sich Großvater nicht auf, sondern bleibt am Boden liegen. Für ihn ist dieser Ort wahrscheinlich geradeso gut wie jeder andere.

 

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