Erzählungen
Mein Geburtstag 2012
Ich habe am 3. August Geburtstag, habe diesem Ereignis - wie nicht wenige Männer - jedoch nie besondere Bedeutung geschenkt. An diesem Tag bin ich gewissermaßen ins Leben geschwemmt worden, es hätte genauso gut jeder andere Tag sein können. Geburtstage sind vor allem im Zusammenhang mit Kindern schön, wenn das Glück des Schenkens und das Glück des Beschenkt - Werdens ineinander fallen und einen Tag mit Herzklopfen, bunten Ballons und Schokolademündern zum Vorschein bringen. Oder aber man zeigt sich froh darüber, dass man die (Groß-)Eltern noch hat und sie sich bester Gesundheit erfreuen. Am Geburtstag meiner Freundin gönne ich mir das kindlich-sportliche Vergnügen, ihr etwas zu schenken, wovon ich weiß, dass es ihr gefällt, sie es sich aber versagt, weil es ihr zu teuer oder zu dekadent erscheint. Indem ich es ihr schenke, braucht sie also kein schlechtes Gewissen zu haben. (Eingefädelt wird ein solches Geschenk übrigens, in dem ich potentielle Objekte ihrer Begierde übers Jahr vor ihr schlecht mache oder Anspielungen ihrerseits scheinbar komplett negiere.) Die Geburtstage vieler (männlicher) Freunde weiß ich hingegen gar nicht oder habe sie über die Jahre vergessen. Wir sind uns darüber einig, dass wir eben älter werden - so what?
Das hat sich nun geändert. Am 12. April 2011 bin ich in der an der Grenze zu Laos gelegenen thailändischen Provinzstadt Nong Khai mit meinem Motorrad von einem Pickup erfasst worden und habe diesen Frontalzusammenstoß in einer Weise überlebt, die mir den von einem behandelnden Arzt geprägten Spitznamen „Wunder von Nong Khai“ eingebracht hat. Im Widerspruch zu meiner Geburtsurkunde feiere ich meinen Geburtstag von nun an am 12. April und werde 2013 somit genau 1 Jahr alt. Es wird seit meiner Kindheit die erste Feier dieser Art sein, die mir wirklich etwas bedeutet.
Zum Zeitpunkt meines Unfalls bin ich seit sechs Wochen unterwegs gewesen. Die meiste Zeit davon habe ich in Bangkok verbracht, wo mich vor allem die sichtbaren Auswirkungen des kapitalistischen Sturms, der gegenwärtig über Asien hinwegfegt, in den Bann gezogen haben. Volkswirtschaften wie die thailändische versuchen im Sog des chinesischen Wirtschaftswunders eine Entwicklung in zehn, zwanzig Jahren nachzuholen, für die Europa vierzig, fünfzig Jahre gebraucht hat (in Wahrheit viel länger, wenn man den Kolonialismus und die beiden Weltkriege in ihrer hemmungslosen Entfesselung von Produktivkraft und Ressourcenabbau als notwendige Vorspiele begreift). Der Kapitalismus wirkt im gegenwärtigen Asien wie ein zugleich verheißungsvoller als auch unbarmherziger Beschleuniger, der statt Elementarteilchen Menschen vorantreibt. In Bangkok habe ich auf der Strasse und im Umfeld von Fabriken zum ersten Mal über einen längeren Zeitraum miterleben dürfen, was es bedeutet, wenn die Arbeit zum Leben selbst wird, zur Totalität, die - obwohl rund um die Uhr betrieben -, das Auskommen doch nur gerade so sichert. Erschöpfung und Erholung gehen fließend ineinander über. Wenn ein Arbeiter nach einer 12 Stunden Schicht eine Pause macht, verlässt er die Maschine und geht einfach ins Nebengebäude, wo sich seine Schlafkoje befindet. Die meisten Männer und Frauen, die innerhalb dieser vom Sicherheitsdienst der Firma kontrollierten 4 m² ihr Leben fristen, stammen - wie auch die meisten Prostituierten in Bangkok oder Pattaya - aus dem Issan, dem armen Nordosten Thailands. Das wenige Geld, das sie verdienen, schicken sie nicht selten zur Gänze nach Hause. An den unzähligen stationären Verkaufsständen und Garküchen, die sich am Rand von Strassen, Eisenbahnlinien und Wasserwegen (Klongs) befinden, sieht man zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschen, die neben ihrer Ware eingeschlafen sind oder solche, die kurzerhand eine (Hänge-)Matte hervorholen und sich hinlegen, dabei jedoch ihren Arbeitsplatz nicht verlassen. Manchmal haben es sich die Kinder und die Großeltern auf einer Decke hinter dem Stand gemütlich gemacht und glotzen auf den Bildschirm eines winzigen, tragbaren Fernsehgeräts, während die Mutter mit Touristen gerade um den Preis einer gefaketen Chaneltasche feilscht. Das Fernsehgerät und die allgegenwärtigen Handys weisen auf die Technikversessenheit der Thais hin, aber selbst der Besitz eines relativ neuen und gepflegten Autos bedeutet nicht, dass sein Besitzer über ein Haus oder eine Wohnung verfügt. Einige Familien, deren Existenz auf dem Transport von Waren oder Menschen beruht, haben sich beispielsweise direkt neben der Stadtautobahn niedergelassen und leben im Grunde illegal in einer Wellblechsiedlung ohne fließendes Wasser und mit der rohen Erde als Fußboden, was einen absurden Kontrast ergibt: auf der einen Seite die staubigen, rostigen, zusammengeflickten und- gebundenen Wellblechhütten, auf der anderen der spiegelblank polierte Toyota - Kastenwagen. Der Toyota parkt unter der Fahrbahn, die - von hohen Pfeilern getragen - scheinbar über den Köpfen schwebt und dennoch durch den Lärm und den Gestank der Abgase von Hunderttausenden von Fahrzeugen den Weg in jedes Ohr, jede Nase und unter jede Decke findet. Das Erstaunliche ist dabei die ihrer buddhistischen Tradition entspringende Gelassenheit, mit der die Thais diese Lebensumstände augenscheinlich hinnehmen, Lebensumstände, gegen die sich das durchschnittliche österreichische und deutsche Gejammer geradezu lächerlich ausnimmt. Die Gelassenheit geleitet die Thais wie ein unbeirrbarer, innerer Kompass durchs Leben. Sie ist jedoch nicht nur ein Segen, sondern auch ein Fluch, da sie die Menschen mehr ertragen lässt, als ihnen eigentlich zuzumuten sein sollte, und so die etablierten Kräfte stärkt, die zwar eine Steigerung des Bruttosozialprodukts, aber nicht wirklich eine gerechtere Verteilung des Reichtums anstreben.
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