Essays
Mischwesen
Fatima Bornemisszas Silikonskulpturen
Sie wirken, als wären sie gerade erst zur Welt gekommen – dennoch stellte es keinen Widerspruch dar, würde man behaupten, sie wären gerade erst gestorben.
In Fatima Bornemisszas Silikonskulpturen vereint sich nicht nur Erwachsenes und Kindliches, sondern auch Lebendes und Totes. Das Material verleiht den Körpern etwas Ätherisches; gleichzeitig läßt seine knochenfarbene Politur an die Fahlheit eines menschlichen Skeletts denken. In dieser Ambivalenz und der Tatsache, daß die Körper in ihr wie in einer eigenen Sphäre zu schweben scheinen, erinnern sie nicht zuletzt an Engel - die einzigen Geschöpfe, die sowohl in unmittelbarer Nachbarschaft Gottes, als auch des Menschen leben können. „Da träumte ihm: Er sah eine Leiter auf die Erde gestellt, deren Spitze den Himmel berührte. Er sah auch, wie Engel Gottes an ihr auf- und niederstiegen.“ (Gen, 28,12) Die Engel verwandeln den Abgrund zwischen Gott und den Menschen in einen wechselseitigen Resonanzraum. Sie sind ihrer Bestimmung nach Gefährten: Sie relativieren die Einsamkeit Gottes ebenso wie die des Menschen.
Bornemisszas geschlechts- und alterslose Mischwesen sind auf ihre Weise ebensolche Resonanzräume - sowohl für die in ihren Genen verschlüsselten Informationen, als auch für die mannigfaltigen Begehrlichkeiten ihrer Mitmenschen. Die Schläuche, die ihre Leiber mit der Außenwelt verbinden, erinnern daran, daß der Mensch von Beginn an auf Versorgung von außen angewiesen ist, die den Erhalt seines Lebens sichert. Nahrung, Liebe, Wissen – im schwerelosen Reich der Bauchhöhle scheint diese Versorgung noch nicht vom Vorhandensein einer Außenwelt abhängig – das Ungeborene ist so uneingeschränkt mit seiner Mutter verbunden, daß ihm diese als Innenwelt oder als Eigenschaft seiner selbst vorkommt.
Vergegenwärtigt man sich das Bild eines Babies, stellt man sich seine Augen nicht selten geschlossen oder zusammengekniffen vor – die Kleinkinderaugen in den Gesichtern von Fatima Bormemissza hingegen sind weit aufgerissen. In der Bläue ihrer großen Pupillen kristallisiert sich jener Schrecken, der mit der Geburt begann und sich im Prozeß des Erwachsenwerdens fortsetzt, dessen Voranschreiten nur vom Tod außer Kraft gesetzt werden kann. Der matte Glanz des Silikons, der der Palette der Vergänglichkeit entspringt, wirft dabei ein Licht auf die vergebliche Hoffnung des Menschen, vom Zwang seiner Entwicklung - seiner biologischen geradeso wie seiner historischen – erlöst zu sein.
Bornemissza reduziert den Menschen nicht auf jene wenigen Minuten, die seiner Zeit als Kleinkind statistisch zukommen. Sie widmet diesem Lebensabschnitt vielmehr jene Aufmerksamkeit, die ihm in der Psychologie und den Biowissenschaften längst entgegengebracht werden. Doch wo die Naturwissenschaft dem Faktum der Evolution Rechnung tragen muß, vermag die Ästhetik diese Evolution außer Kraft zu setzen: Bornemisszas Körper führen ein Leben auf Abruf. Um sich zu entfalten, müssen sie immer wieder von neuem mit Leben erfüllt und aufgepumpt werden. Liegen sie schlaff am Boden oder hängen an einer Wand, erinnern sie weniger an Menschen als an Reptilien, die eine alte Haut um einer neuen willen abstreifen müssen. Zu behaupten, daß der Mensch in ähnlicher Weise sein Kindsein abstreifen muß, um erwachsen zu werden, ist eine Vorstellung, die spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unhaltbar geworden ist. Als es keine fernen Länder mehr zu entdecken gab, entdeckte man in jener Zeit einen Kontinent, den man bis dahin geflissentlich übersehen hatte, obwohl jeder Mensch ihn einmal durchquert und Spuren dieser Wanderung ein Leben lang mit sich herumträgt: die Kindheit. Während die Traumata der Kindheit längst zum geflügelten Wort geworden sind, empfand es der aufgeklärte Bürger anfangs als Angriff auf seine Souveränität, daß ihn die Freudschen Entdeckungen gleichsam zu einem Konglomerat aus Trieben, Träumen und Kindheitserlebnissen degradierten.
Wenige Jahrzehnte zuvor war die Unterdrückung der Kindheit noch eine Selbstverständlichkeit gewesen, eine Jahrhunderte lange Praxis, die sich etwa in den Porträts der Kinder von Königen oder Fürsten ebenso glanzvoll wie bedrückend niederschlug. Die Kinder Phillips IV. sind auf Velazquez’ Bildern in den Ornat ihrer Herkunft hineingepreßt wie Fleisch in einen Schweinedarm. Jede kindliche Geste ist diesen Körpern, die bereits die Unbeweglichkeit der Denkmäler antizipieren, die man ihnen dereinst setzen wird, ausgetrieben worden. Sie sind dazu verdammt, ihre Zeit auf dieser Welt ausschließlich in jener Uniform zu verbringen, die ihr Leben ist.
Die humanoiden Silikonwesen von Fatima Bornemissza wirken, als wären sie einer solchen Zurichtung – der Negation des Individuums und des freien Willens - im letzten Augenblick entgangen. Aber um welchen Preis? Keine Leidenschaft geht von diesen nackten Leibern aus; selbst der Schmerz wirkt so allumfassend, daß ein Rückschluß auf ein individuelles Schicksal darüber unmöglich, ja, sinnlos wird. Und dennoch: Dem dünnhäutigen Wesen dieser Skulpturen ist etwas beigemengt worden, das – abhängig vom Standpunkt des Betrachters – Auskunft geben kann über das Glück oder Unglück, einmal ein Kind gewesen oder es geblieben zu sein.
Fatima Bornemisszas Zeichnungen stellen keine Vorarbeiten für ihre Skulpturen dar. Sie arbeiten den Skulpturen vielmehr zu, ohne dabei an Eigenständigkeit einzubüßen. Der Transparenz des Silikons entspricht in den Zeichnungen die Tatsache, daß die Evidenz der Körper auf eine in den leeren Papierraum gesetzte schwarze Umrißlinie beschränkt bleibt. Die einzelnen Blätter lassen weniger an anatomische Studien als an Schaltpläne oder Konstruktionszeichnungen von Maschinen denken. Lebenssituationen werden in ihnen als Aggregatzustände gedeutet, die sich auf kein Subjekt beziehen können, da der Mensch als eine chemische Formel in Szene gesetzt wird, und nicht als vernunftbegabtes Tier – geschweige denn als sterbliche Hülle einer unsterblichen Seele. Bornemissza betont das Prozesshafte: Die immergleichen Versuche der Außenwelt, diese (Kinder-)Körper um ihrer höheren und niederen Zwecke willen zu manipulieren. Angst, Lust, Schmerz – die Zeichnungen bieten weder Platz für die Gefühle der Peiniger, noch der Gepeinigten. Selbst die Behauptung von Peinigern und Gepeinigten geht im Grunde über das Profil hinaus, das Bornemissza mit ihren Momentaufnahmen liefert. Auf ihren Blättern finden keine menschlichen Dramen statt. Sie liefern vielmehr Anschauungsmaterial für das Wirken jenes Naturgesetzes, das diesen Dramen zugrunde liegt.