• "Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A powerful use of image and poetry." ***** Roger Ballen, Photographer

  • "Terribly beautiful and fascinating" **** Richard Mosse

  • "Peter Truschner schont in seinen Texten über eine Welt, in der es um den Preis und nicht um den Wert einer Ware, der Arbeit oder des Lebens geht, weder sich noch den Leser." ***** Stefan Gmünder, Der Standard

  • "Peter Truschner belongs to the almost extincted sort of artists who always have to go all out." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A great amount of good photography." ***** Myrto Steirou, VOID

  • "Peter Truschner ist nicht nur ein wacher und sensibler Beobachter, sondern ein Erlebender des Wahnsinns, der um uns herum geschieht." ***** Martin Kusej, Burgtheater Wien

  • "Ist das immer schon so gewesen, dass man eines Tages hinter seinem warmen Ofen hervorgeholt und an den Haaren ans Ufer gezerrt und in die kalten Betriebsfluten getaucht und getauft wurde im Namen des Geschäfts?" ***** aus: Im Namen des Geschäfts

Copyright 2024 - Peter Truschner - All rights reserved // „Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Das fünfunddreißigste Jahr

 

Der Morgen danach

Ich blinzelte. Das Tageslicht hatte etwas von einem Rotweinfleck: Es würde nicht so schnell weggehen, also drehte ich mich um, das Gesicht zur Wand, und versuchte, wieder einzuschlafen, doch es gelang mir nicht. Ich ergab mich der Helligkeit. Vielleicht war es ja schon viel später, als ich dachte.
Der Frage nach der Zeit folgte die ungleich spannendere Frage nach dem Ort. Lag ich in meinem Bett, oder lag ich im Bett einer Frau, die ich letzte Nacht kennengelernt hatte? Ich öffnete zaghaft die Augen und befühlte mit meinen Händen die Unterlage, auf der ich lag. Es handelte sich dabei um kein Bett, sondern um eine Couch. Außerdem hatte ich es nicht mehr geschafft, mich auszuziehen, sondern hatte Jeans und Socken anbehalten, als ich mich hingelegt hatte. (Wahrscheinlich war ich nicht mehr nüchtern genug gewesen, um mich auszuziehen.) Ich blickte mich um. An den Wänden hingen drei großformatige Ölbilder, die Variationen desselben Motivs darstellten: Rote, der menschlichen Physiognomie nachempfundene Körper - mal fehlten die Beine, mal klaffte in einem Brustkorb ein riesiges Loch - versuchten vergeblich, die Entfernung zu überwinden, die zwischen ihnen lag. Wie so oft am Ausgang einer Nacht war ich also auf der ausziehbaren Couch meines Freundes Toni gelandet. Wie war ich dort hingekommen? Es war nicht unwahrscheinlich, dass ich bereits im Lokal eingeschlafen war. Obwohl Toni wesentlich mehr getrunken hatte als ich, hatte er noch soviel Kraft und Klarheit besessen, mich nach Hause zu befördern.
Was das Trinken betraf, war ich gewissermaßen ein Lehrling, wo Toni schon ein Meister war. Er beherrschte es wie kein anderer, seinen alkoholgetränkten Körper wie eine nüchterne Kulisse vor sich herzuschieben. Was für mich noch ein Exzess war, war für ihn normal. Er konnte in kürzester Zeit sechs halbe Liter Bier trinken, ohne dass man seinem Gang, seiner Stimme, seinem Blick etwas anmerkte. Ich konnte bei einer solchen Menge nicht mehr gerade stehen. Wobei es durchaus Tage gab, an denen er keinen Alkohol trank, vermutlich, um sich zu beweisen, dass er es immer noch aus Lust tat und nicht aus Zwang.
Ich machte mich mit dem Gedanken vertraut, aufzustehen, blieb aber noch auf der Couch liegen. Mir war schlecht und ich spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, mir Erleichterung zu verschaffen und mich zu übergeben. Der Gedanke an Tonis Badezimmer, an den Zustand seiner Toilette, ließ mich jedoch davon absehen. Es war besser, sich solange zusammenreißen, wie es ging, als sich in halbnüchternem Zustand über Tonis Kloschüssel zu beugen.
Tonis Wohnung war eine klassische Junggesellenbude: die erweiterte, dafür verkommene Ausgabe eines Kinderzimmers. Statt Blumen in Vasen gab es volle Aschenbecher, statt Schuhregal und Schirmständer in der Diele eine Dartscheibe sowie Tennisschläger und Schischuhe, die nie benutzt wurden. Statt nach Wildblütenduft roch es im Klo nach Urin, der am Boden der Kloschüssel eine Kruste ausgebildet hatte, die mit der Bürste nicht mehr zu entfernen war. Im Eisfach des Kühlschranks stapelten sich Fertiggerichte, deren Verpackungen einfach auf der Anrichte liegen blieben, wenn der Mülleimer voll war. Die Bettwäsche war voller Sperma- und Kaffeeflecken. Sie wurde selten gewechselt, was nicht zuletzt daran lag, dass keine Frau sich oft genug darin aufhielt, dass sie sich darüber hätte aufregen können. Toni konnte auch problemlos in seinen Kleidern am mit Staubmäusen übersäten Boden schlafen oder nach einem Rave unter freiem Himmel auf einer nachtfeuchten Wiese liegenbleiben. Dennoch trug er immer frisch gewaschene und gebügelte Hosen und Hemden, da er alle zwei Wochen einen Sack Schmutzwäsche bei seiner Mutter ablieferte.
Ich ekelte mich vor dem Ausmaß der Verwahrlosung in Tonis Wohnung. Dennoch war es besser, als bei mir Zuhause aufzuwachen. Ich mied mein Zimmer so gut ich konnte, da ich dort mit mir allein und somit auf mich selbst zurückgeworfen war. Ich wollte mich jedoch nicht mit mir - meinen Möglichkeiten und Versäumnissen - auseinandersetzen, sondern von mir ablenken. Ich sagte mir, dass die Zeit für diese Auseinandersetzung kommen, irgendwann geradezu eine körperliche Notwendigkeit darstellen würde - aber nicht jetzt oder in nächster Zeit.
Anfangs behandelte ich den Alkohol wie eine Zufallsbekanntschaft, mit der ich mich abgab, solange sie mich amüsierte, von der ich mich jedoch abwandte, sobald sie mich zu nerven begann. Wenn ich abends allein oder mit Freunden durch die Lokale zog, brauchte ich eine gewisse Menge Bier oder Wein, um in Fahrt zu kommen. Das Fortgehen büßte in nüchternem Zustand viel von seiner Faszination ein, sodass ich mir einen Abend ohne Alkohol nicht mehr vorstellen konnte.
Ich kann nicht sagen, wie es schließlich dazu gekommen ist, dass nicht Sekunden und Minuten, sondern Promille nicht nur der Nacht, sondern auch meinem Tag eine Struktur gaben. Es wäre angenehm, wenn ich mit dem Finger auf etwas zeigen und ausrufen könnte: Das war es! Es gibt jedoch nichts, das sich als Werkzeug verwenden lässt, mit dem sich diese Periode meines Lebens im Nachhinein vollends erschließt. Wahrscheinlich sind es sogar die Lücken, die bleiben, in denen sich am meisten finden lässt.
Ich war damals achtundzwanzig und hatte mich von meiner Freundin getrennt; den Gedanken an eine akademische Laufbahn verworfen, auf die ich zu meiner eigenen Überraschung (ich war ein talentierter, aber disziplinloser Schüler) hingearbeitet hatte; mich daraufhin heillos mit meiner Mutter zerstritten. Letzteres wog nicht ganz so schwer, da wir uns im Laufe der Jahre an das immer wieder aufflammende Schweigen zwischen uns und das Unverständnis füreinander auf eine Weise gewöhnt hatten, als handelte es sich um eine Naturgesetzlichkeit, die man achselzuckend zur Kenntnis nimmt.
Ich weiß nicht, ob all das Anlass genug ist, dass man im Trinken Halt sucht. Manchmal erscheint mir diese Auflistung geradezu lächerlich. Es ist so als würde man nach dem Einleuchtenden greifen, um das spürbar darunter Verborgene nicht ans Licht zerren zu müssen.
Der Grund dafür, warum das Trinken und das Verdrängen so oft Hand in Hand gehen, besteht darin, dass das Trinken - nicht zuletzt, wenn es sich zum Saufen ausgewachsen hat - eine Verhinderung oder Verweigerung von Reflexion darstellt. Trinken bedeutet, nicht nachzudenken, am allerwenigsten über sich selbst. Jeder Schluck bereitet einem Gedanken ein gewaltsames Ende, löscht Bilder aus, setzt einen Punkt hinter einen unvollständigen Satz. Eingeschlossen in diese Verweigerung ist die Person des Trinkers, die lange vom Trinken abgespalten bleibt, ganz so, als handelte es sich bei einem Glas Johnny Walker um ein real existierendes Gegenüber, mit dem man sich vernünftig unterhalten kann. Trinker und Trinken gehen erst dann eine Symbiose ein, wenn das gefüllte Glas gleichsam eine Außenstelle des Ich darstellt. Bis der Alkohol schließlich überall ist, Innen und Außen verschwimmen, und man sich als Teil eines in seinen Ausmaßen nicht zu erkennenden, von wechselnden Feuchtigkeitszuständen geprägten Schwammes empfindet. Die Zeit in einem solchen Schwamm verläuft gleichförmig, ein Tag ähnelt dem anderen, gleich, für welche Verwicklungen der Zufall sorgt.
Der Beginn eines Tages fühlte sich manchmal an, als hätte ich mich von den Fingern einer riesigen Hand zu befreien, die sich um meinen Körper geschlossen hatte. Der nächtliche Rausch war ein Aufenthalt in einer von Stimmen und deren Echos durchdrungenen Zelle gewesen; der Morgen danach konnte sich dagegen manchmal - in Verbindung mit anderen Drogen - in einem geräuschlosen Vakuum abspielen, das, als ich es noch nicht kannte, mein Herz vor Angst rasen machte. Ich versuchte es mit Druckausgleich wie unter Wasser - zwecklos. Ich schrie, schlug mit der Faust auf den Tisch und versuchte dabei einen Spagat: einerseits so laut wie möglich zu sein, um etwas zu hören, und wenn es nur der Flügelschlag eines Geräuschs war; andererseits so wenig durchgeknallt wie möglich zu wirken, falls ich nicht allein war.
Diesmal handelte es sich um das andere Extrem: Seit ich die Augen geöffnet hatte, fand ich mich eingeschweißt in eine dumpfe Lärmhülle. Ein Brummen, das nichts als das Brummen meines Schädels war, sich jedoch wie ein Brummen aller Dinge anfühlte, die sich um mich herum befanden. Ein Brummen der Couch, der Stereoanlage, des Teppichbodens, der Fenster. Alle diese Objekte schienen durch unsichtbar schwingende Fäden miteinander verbunden zu sein. Ich hatte gehofft, dass die Übelkeit und das Brummen nach dem Aufstehen allmählich verschwinden würden, aber meine Hoffnung hatte sich nur zur Hälfte erfüllt. Schlecht war mir nicht mehr, das Brummen hielt jedoch unvermindert an.
Ich begab mich schwankend auf die Suche nach dem Badezimmer. (Auch wenn ich in meiner Wohnung erwachte, musste ich manchmal das Badezimmer suchen. Ich hatte das Denken vergangene Nacht eingestellt, da konnte es passieren, dass es am Morgen nur stotternd wieder in Gang kam.) Aber auch das Aufdrehen des Wasserhahns und das Eintauchen der Hände und des Gesichts in kaltes Wasser bereiteten dem Brummen kein Ende. Wie auch? Schließlich brummte es in mir selbst. All jene Teile meines Körpers, die ich entweder über die Maßen strapazierte - Leber, Lunge, Blase, Herz - oder aber sträflich vernachlässigte - Haare, Sehnen, Muskeln, Nägel, Zähne - hatten sich zu einem Chor zusammengetan. Gemessen am Schweigen, das ihnen sonst zukam, veranstalteten sie einen Höllenlärm.
Fremd kam mir auch mein Gesicht im Badezimmerspiegel vor, ein wie von Fettfingern verwischtes Portrait. Fremd war an ihm vor allem die Gleichgültigkeit, mit der es mir entgegenglotzte. Sie war so groß geworden, dass es inzwischen nicht nur den anderen, sondern auch mir auffiel. (Wobei ich auf diese Erkenntnis wiederum nicht anders reagierte als mit Gleichgültigkeit.) Das Bild, das ich im Spiegel abgab, war weniger dem Alkohol als dieser Gleichgültigkeit geschuldet, mit der ich an alles heranging. Diese Art, mit mir Umgang zu haben, musste jene befremden, die mich gut kannten, da ich mir und meinen Angelegenheiten immer besondere Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Meine Haare, meine Kleidung, mein Gang: Wenn ich unterwegs war, suchte ich meine Umgebung immer nach spiegelnden Oberflächen ab, um mich meiner Identität zu vergewissern. Wenn mich etwas störte - etwa der Sitz meiner Frisur -, musste es sofort korrigiert werden. Neuerdings machte es mir jedoch nichts mehr aus, ob meine Haare ungewaschen, meine Nägel abgebissen und meine Jeans dreckig waren - ein Umstand, den meine Mutter beängstigend fand, da eine gepflegte Erscheinung unabdingbar für einen Menschen waren, der sich zum Ziel gesetzt hatte, etwas darzustellen. Wobei es ihrer Meinung nach nicht genügte, etwas für sich selbst zu erreichen. „Da kannst du ja gleich Bauer werden.“ Das Erreichte musste bei anderen Respekt und Bewunderung hervorrufen, bestenfalls mit gewissen Privilegien verbunden sein, die einen aus der Masse - ein Wort, bei dem sie unwillkürlich den Mund verzog - herausragen ließen.
„Tob’ dich aus, wenn Du’s brauchst. Du hast Dir zwar schon mit fünfzehn die Jeans zerschnitten, aber bitte“, sagte sie lakonisch. „Wie wissen ja, dass die Pubertät bei Männern gelegentlich etwas länger dauert.“
Ich maß den Worten meiner Mutter keine große Bedeutung bei. Ich brachte sie auch weniger mit mir als mit den Erfahrungen in Verbindung, die sie allgemein mit Männern gemacht hatte. Der Tenor dieser Erfahrungen lautete, dass es Männern vor allem um zwei Dinge ging: um ihren Schwanz und um ihre Arbeit. Hatte man das erst einmal durchschaut, konnte man als Frau das, was Männer einem weismachen wollten, nicht mehr wirklich ernst nehmen. Kannte man einen oder zwei, kannte man sie im Grunde alle. In der Weise, in der meine Mutter von Männern sprach, handelte es sich bei ihnen weniger um eine Gruppe von Individuen, als um eine Gattung. Indem ich auch ein Mann war - ich hatte zwar noch keine Arbeit, aber immerhin einen Schwanz -, konnte ich davon ausgehen, dass vieles von dem, was ich von mir gab oder womit ich mich beschäftigte, bei meiner Mutter von vornherein nur ein Lächeln hervorrief. Ich verdankte es der Tatsache, dass ich ihr Sohn war, dass dieses Lächeln milde ausfiel.
Ich stellte mich unter die Dusche. In der Hoffnung, mit einem Schlag hellwach zu werden, drehte ich nur das kalte Wasser auf. Als die ersten Wasserstrahlen mein Gesicht trafen, blieb mir kurz die Luft weg. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre ich zu rasch aufgestanden, nachdem ich mich zuvor lange in der Hocke befunden hatte. Ich atmete in kurzer, schneller Abfolge aus und ein, nahm den Duschkopf in die Hand, und verteilte das Wasser gezielt über meinen Körper. Die Kälte machte mich munter, meine Bewegungen wurden schneller, das Dröhnen in meinem Kopf verwandelte sich allmählich in ein Stechen, das erträglich war, solange ich mich nicht bewegte. Bückte ich mich jedoch oder drehte ich den Kopf, verspürte ich zuerst einen Stich. Dann platzte etwas auf und verteilte sich zwischen Stirn und Hinterkopf, wo es sich schließlich auflöste, um wieder aufzutauchen, wenn ich eine schnelle Bewegung machte.
Ich trocknete mich ab, föhnte mir jedoch nicht die Haare, sodass mir auf dem Weg in die Küche vereinzelte Wassertropfen das Gesicht und den Rücken hinunterrannen. Als ich in die Küche kam, erblickte ich Toni - und in gewissem Sinn mich selbst: Toni hatte nichts an außer das Handtuch, das er sich um die Hüften geschlungen hatte. Seine Haare waren feucht, vor sich auf dem Tisch stand eine halbleere Flasche Cola. Ich setzte mich zu ihm, trank aus der Flasche und stellte mit einem Blick auf die Küchenuhr zu meiner Überraschung fest, dass es noch nicht einmal elf Uhr war.
Toni wünschte mir einen guten Morgen und fragte mich, wie es mir ging - eine Frage, die sich im Grunde erübrigte, da es mir am Morgen danach so gut wie immer schlecht ging. Ich antwortete also wahrheitsgemäß: beschissen. Toni lachte und stand auf, um Kaffee zu machen.
Mehr an Unterhaltung gab es nicht - weder an diesem Morgen, noch sonst irgendwann. Zwischen uns herrschte zwischen jenes Schweigen, in dem Trinker, die nicht zum Geschwätz neigen, sich am wohlsten fühlen. Es ist unabdingbar, um es miteinander auszuhalten: Jedes überflüssige Wort, jede überzogene Geste wirkt ernüchternd, da sie daran erinnert, dass man sich im Grunde nichts zu sagen hat. Man kann ruhig über die unglückliche Kindheit sprechen oder die Tatsache, dass man gerade seinen Job verloren hat - wenn es sich nur so anhört wie ‚ich hab’ heut’ noch keinen Kaffee getrunken’. Alles andere - ob Skepsis oder Emphase - mündet zumeist in einer Auseinandersetzung. Hatte Toni eine große Liebe erlebt? War er schon einmal in Lebensgefahr gewesen? Ging ihm überhaupt etwas wirklich nahe? Ich wusste es nicht, würde es vielleicht nie erfahren.
Wenn man säuft, stellt der Vormittag zumeist eine Art Gefechtsruhe zwischen der vergangenen und der kommenden Nacht dar. Es gibt Trinker, die frühmorgens pünktlich wie aus dem Ei gepellt zum ersten Meeting erscheinen (das sie jedoch in Wahrheit nur überstehen, weil sie wissen, dass in ihrem Büro der präparierte Aktenordner mit der Flasche Cognac auf sie wartet). Bei Toni und mir lag der Fall anders. Wir hatten weder eine Familie, für die wir sorgen mussten, noch ein Büro, in dem wir pünktlich zu erscheinen hatten. Toni hatte zuletzt in einer Firma gearbeitet, die Mikroelektronik für den Maschinenbau produzierte und vertrieb. Als die Firma Stellen abbaute, war er unter denen, die gehen mussten. Seither lebte er von Arbeitslosengeld - nicht zuletzt, weil er Anstellungen zu verhindern wusste. Ich hätte längst meine Diplomarbeit fertigstellen müssen. Stattdessen saßen wir nun in seiner Küche, in der es nach Kaffee roch, der im Glasbehälter der Filtermaschine anbrannte. Da es keine Butter gab, schmierten wir uns die Brombeermarmelade von Tonis Mutter auf unser trockenes Weißbrot. Ich schlug ein paar Ameisen tot, und wir sahen ihren Artgenossen dabei zu, wie sie die zerquetschten Körper mit vereinten Kräften von der Tischplatte lösten und abtransportierten. Ihr Vorgehen erschien auf den ersten Blick chaotisch. In Wahrheit handelte es sich bei ihrem Gewusel um eine gezielt auf Überwältigung durch Masse bauende Operation.
„In der Natur gibt es keine Verschwendung“, sagte ich - eine Behauptung, die Toni nicht weiter interessierte.
Obwohl die Sonne schien, war der Morgen grau gewesen. Wir lagerten auf unseren Stühlen wie x-beliebige Sachen, die am Fundamt auf ihre rechtmäßigen Besitzer warteten. Ein Lächeln haftete plötzlich auf Tonis Gesicht, als wäre es dort von jemandem angebracht worden.
„Alles in Ordnung?“ fragte ich. Toni antwortete nicht. Als er mit seiner Kaffeetasse auf die leeren Bierflaschen am Boden deutete, wusste ich, was ihm als Fortsetzung des Frühstücks vorschwebte.

 

 zurück